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Nachhaltige Karrieren in Berlin: So prägt die Hauptstadt Ihren beruflichen Weg – ein Interview mit Dr. Julia Mühlhaus

© Masa Yuasa
© Masa Yuasa

Berlin ist eine wachsende Metropole, die für Toleranz, Freiheit und Dynamik steht. Genau diese Eigenschaften machen die Stadt zu einem idealen Ort für die Entwicklung nachhaltiger Karrieren. Menschen aus aller Welt zieht es hierher, um ihre beruflichen Träume zu verwirklichen und von der Offenheit Berlins zu profitieren.

In Berlin können all diese Menschen ihre Karrierewege aktiv gestalten, reflektieren und sogar mehrere berufliche Identitäten vereinen. Die inspirierende Kombination aus kultureller Vielfalt und einem breiten Spektrum an Branchen sowie Unternehmen schafft ideale Bedingungen für Karrieren, die langfristig erfüllend und erfolgreich sind.

Dr. Julia Mühlhaus, Head of Learning and Leadership Development an der Charité Berlin, Karrierecoach und Forscherin zu den Themen „Nachhaltige Karrieren in Städten“ und „Berufliche Identitäten“ hat gemeinsam mit ihren Kolleg:innen Prof. Svetlana Khapova und Prof. Onno Bouwmeester von der Vrije Universiteit Amsterdam eine Studie zum Thema „Meine Stadt, meine Karriere: Untersuchung der Wahrnehmung und Gestaltung von nachhaltigen Karrieren in Berlin“ durchgeführt. Was macht eine Karriere wirklich nachhaltig? Und wie kann der urbane Kontext Berlins dazu beitragen, dass berufliche Wege anhaltend produktiv und gesund sind?

Ihre Forschung zeigt, wie wichtig es ist, den richtigen „fit“ zwischen den eigenen Bedürfnissen, Werten, Talenten und den tatsächlichen Karriereerfahrungen in einer Stadt zu finden. Es wurden Interviews mit über 50 Personen aus verschiedenen Berufsgruppen und verschiedenen Alters geführt, die aus Berlin kamen, nach Berlin zogen, aber auch Berlin verlassen hatten.

Wir haben Dr. Mühlhaus getroffen. In einem einzigartigen Interview gibt sie seltene Einblicke in ihre Forschungsergebnisse. Erfahren Sie, wie Sie eine nachhaltige Karriere gestalten können und Berlin diese als Stadt formt und fördert!

Was ist eine nachhaltige Karriere?

„Nachhaltige Karriere“ („sustainable career“) ist ein fester Begriff in der Karriereforschung, der u. a. von Ans De Vos, Beatrice Van der Heijden und Jos Akkermans geprägt wurde. Es handelt sich um einen systemischen und dynamischen Ansatz, bei welchem das Zusammenspiel von einem Individuum und seinem Kontext beleuchtet wird.Ein Kontext kann das Unternehmen sein, aber auch beispielsweise eine Stadt

Wie der Zusatz „nachhaltig“ schon vermuten lässt, ist die dritte zentrale Dimension die Zeit. Es geht also darum, dass eine Karriere auf längere Sicht durch Freude, Gesundheit und Produktivität gekennzeichnet sein soll, um als nachhaltig zu gelten.

Bei Freude geht es um eine individuelle Wahrnehmung von Karriereerfolg und allgemeiner Zufriedenheit mit dem Leben. Gesundheit bezieht sich auf physische und mentale Gesundheit und Produktivität auf eine starke Leistung und Beschäftigungsfähigkeit über längere Zeit.

Die Forschung der genannten Kolleg:innen hat gezeigt, dass es wichtig ist, einen sogenannten „fit“ zwischen den tatsächlichen Karriereerfahrungen und den individuellen Bedürfnissen, Werten, Interessen und Talenten von Individuen zu haben. Hierfür ist es natürlich erforderlich, sich dieser Aspekte bewusst zu werden und entsprechend proaktiv die eigene Karriere im Einklang mit diesen zu gestalten.

Zu welchem Ergebnis sind Sie in Ihrer Studie gekommen?

Um nachhaltige Karrieren in Berlin zu beleuchten, wollte ich erst einmal verstehen, wie Berlin als Kontext von den Interviewteilnehmenden beschrieben wird. Es ist aufgefallen, dass die Interviewteilnehmenden eine sehr ähnliche Wahrnehmung von Berlin hatten und dass sie bestimmte Eigenschaften als typisch für Berlin ansahen. Sie sagten zum Beispiel: „Das findest du nur in Berlin.“

Beschrieben wurden u. a. Toleranz, Offenheit und dass es auch okay ist, wenn man mal scheitert und dass man hier die Freiheit hat, sich auszuprobieren

Sie schätzten darüber hinaus das Vorhandensein von diversen Communitys, Meet-ups, eine informelle Atmosphäre und dass man Menschen mit ähnlichen Interessen findet – egal wie speziell diese sind. Es wurden auch die verhältnismäßig geringeren Lebenshaltungskosten genannt und dass es viele Start-ups gäbe und viele Jobs im Allgemeinen. Diese Erkenntnisse habe ich als Eigenlogik von Berlin interpretiert. Die Eigenlogik von Städten ist ein Ansatz aus der Urbansoziologie, der u. a. von Martina Löw geprägt wurde. Städte gelten als sogenannte „contexts of meaning” (Bedeutungskontexte) mit einer stadtspezifischen Logik, die Menschen in ihrem Alltag, in ihren Gedanken und in ihrem Handeln beeinflusst.

Interessant. Erzählen Sie uns mehr über die „Berliner Eigenlogik“!

Ich betrachte die „Berliner Eigenlogik“ nicht als objektive Realität, sondern als subjektive Bedeutungen, die die Interviewteilnehmenden der Stadt beimessen

Basierend auf Berlins Eigenlogik haben einige Interviewteilnehmende besondere Möglichkeiten bezüglich ihrer Karrieren gesehen, beispielsweise die Möglichkeit zu erforschen, was sie von ihrer Karriere und ihrem Leben möchten – die Chance, ihre Berufung zu finden und eine gute Work-Life-Balance zu haben. 

Sie haben dann entsprechend gehandelt und beispielsweise Organisationen und Berufe gewechselt oder verschiedene berufliche Identitäten „ausprobiert“. Wir konnten auch sehen, dass manche Personen sich explizit dafür entschieden haben, weniger zu arbeiten. Sie wollten mehr Freizeit haben, neue Projekte ins Leben rufen oder ihr eigenes Business starten. Bei diesen Personen konnte man deutlich die Indikatoren Freude, Gesundheit und Produktivität in ihren Aussagen wiederfinden. Es scheint ein „fit“ zwischen ihren Werten, Interessen, Talenten und Erfahrungen in Berlin zu geben. 

Es gab aber auch andere Interviewteilnehmende, die die Eigenlogik eher als Hindernis für ihre Karriere angesehen haben und Berlin verlassen hatten oder planten, die Stadt zu verlassen. Sie hatten stärker das Bedürfnis nach geradlinigen Karrierewegen, schnellem Fortschritt in Form von Beförderungen inklusive sehr guter Verdienstmöglichkeiten. Im Vergleich zu anderen Städten, z. B. Hamburg oder Frankfurt, sahen sie dies in Berlin als weniger ausgeprägt an.

Können Sie Beispiele für die subjektiven Bedeutungen nennen und wie sich diese auf die Karriere auswirken?

Ja, wie gerade erwähnt, hatten einige Interviewteilnehmende den Eindruck, dass in Berlin keine „klassischen geradlinigen Karrieren“ möglich wären und man nicht so viel Geld verdienen könne und sie deshalb die Stadt verlassen müssten.

Sicherlich gibt es weltweit Städte, die eine höhere Dichte an großen Unternehmen haben oder Städte, in denen man mehr verdient. Dennoch ist meine Wahrnehmung, dass es durchaus Unternehmen wie z.B. große Consulting-Firmen oder führende Kanzleien in Berlin gibt, die einem entsprechende Karrierewege und ein hohes Gehalt ermöglichen – wenn dies die persönlichen Karriereziele sind.

Auch die Produktion von BWM-Motorrädern oder die regionalen Standorte von Tesla und Rolls-Royce sollte man sicherlich nicht unberücksichtigt lassen. Zudem ist Berlin bekannt für Weltmarktführer in der Medizintechnik wie beispielsweise Ottobock, W.O.M. World of Medicine oder BIOTRONIK, aber auch für Giganten im Bereich Tech & Data, die hier große Dependancen haben – zum Beispiel Google, SAP, Amazon und Meta.

Ein weiteres Beispiel ist, dass viele Interviewteilnehmende Berlin noch als recht günstig empfanden und sie so die Möglichkeit sahen, weniger zu arbeiten oder sich erst mal in Ruhe auszuprobieren. Wenn man sich jedoch offizielle Statistiken anschaut, sieht man, dass der Mietpreis auch schon im oberen Bereich in Deutschland liegt, aber die Gehälter trotzdem noch verhältnismäßig niedriger sind.

Es kommt natürlich auch immer darauf an, mit welcher Stadt die Interviewteilnehmenden Berlin verglichen. Eine Person war z. B. aus New York und sagte, dass sie sich dort nie hätte erlauben können, eine Auszeit vom Job zu nehmen, weil sie gar nicht gewusst hätte, wie sie in NY die Miete hätte zahlen sollen. Hier in Berlin fühlte sie weniger Druck und hat sich im Schreiben von Gedichten probiert.

Welchen Einfluss haben die historischen Entwicklungen und die einzigartigen Lebensstile Berlins auf nachhaltige Karrieren?

Einige Interviewteilnehmende haben die bekannten Indikatoren von nachhaltigen Karrieren (Freude, Gesundheit, Produktivität) aufgezeigt. Zurückzuführen war dies vor allem auf die von ihnen in Berlin wahrgenommene Freiheit, herausfinden zu können, wie sie sich ihre Karriere vorstellen, was ihre Berufung ist oder wie sie eine gewisse Wirksamkeit erzielen können.

Dies ging einher mit der Möglichkeit, sich in verschiedenen Unternehmen, Berufen oder im Rahmen einer Selbstständigkeit auszuprobieren – ohne dafür verurteilt zu werden. Sie betonten auch, dass die erlebte Offenheit, Toleranz und der lockere Stil in der Stadt sie dazu ermutigten, neben der beruflichen Tätigkeit auch explizit sehr viel Zeit für Familie, Freunde und Interessen einzuräumen oder einfach um die für sie spannende Stadt in vollen Zügen zu genießen.

Eine Wahrnehmung einiger Interviewteilnehmenden war, dass in Berlin eine gewisse Freiheit in der Luft läge


Sie führten das u. a. auf den Fall der Berliner Mauer zurück und die besondere Freiheit, die damals ihrer Einschätzung nach bereits in der Luft lag und die Möglichkeiten, die sich ergaben. Dies bestärkte sie darin, mutig zu sein und sich neu zu erfinden.

Welche Empfehlungen haben Sie für Menschen, die eine nachhaltige Karriere anstreben?

Die Anforderungen an eine nachhaltige Karriere sind trotz der anerkannten Indikatoren sehr individuell und können sich im Laufe der Zeit verändern. Ich finde es sehr wichtig, mal innezuhalten und sich zu fragen: Was möchte ich eigentlich von meiner Karriere? Was kann ich? Was interessiert mich? Was motiviert mich? Und wie passt das mit meinem Kontext zusammen, in dem ich aktuell agiere, mit meinem Unternehmen, mit meinem Beruf, mit meiner Stadt, meinem privaten Umfeld?

Um eine Karriere nachhaltig zu gestalten, ist ein wahrgenommener „fit“ essenziell. Da Karrieren zudem dynamisch sind, ist es wichtig, kontinuierlich am Ball zu bleiben und auch mal kritisch zu hinterfragen: Fühlt sich das alles (noch) richtig an?

Als Karrierecoach bin ich Sparrings-Partnerin für meine Klientinnen und Klienten, die sich genau mit diesen Fragen beschäftigen und Handlungsoptionen erarbeiten möchten.

Wo befindet sich Berlin in Bezug auf das Thema „Nachhaltige Karriere“ im internationalen Vergleich?

Ich habe in meiner Studie die subjektiven Wahrnehmungen der Interviewteilnehmenden bezüglich nachhaltiger Karrieren erforscht. Das heißt, dass ich kein Ranking basierend auf quantitativen Faktoren ableiten kann. Jedoch kann ich festhalten, dass die Anforderungen an eine nachhaltige Karriere in einer Stadt sehr subjektiv und dynamisch sein können.

Während eine Studienteilnehmerin New York beispielsweise als zu hektisch empfand und ihr der wahrgenommene Fokus auf schnellen Karrierefortschritt viel Druck gemacht hat, fand sie in Berlin erstmalig einen Raum zu „atmen“ und in Ruhe zu erforschen, was sie außer ihrer Karriere im Marketing noch kann oder möchte.

Eine andere Studienteilnehmerin fand Berlin hingegen zu „lahm“, was Leistung und Karriereentwicklung betraf und wollte lieber in der, wie sie es nannte, „elektrisierenden“ Stadt New York leben, weil diese Stadt und ihre Einwohner:innen sie mitreißen würden.

Es kommt meiner Einschätzung nach wirklich auf die Wahrnehmung und den „fit“ zwischen Individuum und Kontext an. Was suche ich zu einer gewissen Phase in meinem Leben in einer Stadt? Was passt? Was passt nicht? Warum? Was kann ich tun? 

Das heißt: Sehr viele Interviewteilnehmende haben Berlin als Stadt für eine nachhaltige Karriere empfunden. 

Andere bevorzugten eher Städte wie New York oder Hamburg, weil sie dort einen besseren „fit“ sahen. Es ist und bleibt individuell.

Wie schätzen Sie die Entwicklung Berlins in Bezug auf nachhaltige Karrieren in der Zukunft ein?

Wie bereits erwähnt, haben viele Interviewteilnehmende gesagt, dass sie die Lebenshaltungskosten in Berlin noch relativ gering fanden, weswegen sie sich beispielsweise trauten, ihre Arbeitszeit zu reduzieren, um mehr Zeit mit der Familie zu verbringen, eine Selbstständigkeit zu wagen oder sich komplett eine Auszeit zu nehmen.

Von einer Person wurde beispielsweise gesagt, dass sie das in Brüssel aufgrund der höheren Lebenshaltungskosten nicht gewagt hätte. Wenn die Lebenshaltungskosten in Berlin weiter steigen, könnte ich mir vorstellen, dass es vielleicht als etwas riskanter wahrgenommen werden könnte, längere Phasen zum Ausprobieren und Entdecken zu wählen – es sei denn, man hat entsprechende Rücklagen gebildet.

Was mich bei den Interviewteilnehmenden wirklich beeindruckt hat, war, dass sich viele mit tieferliegenden Fragestellungen beschäftigt haben: Was erfüllt mich? Was ist mir wichtig? Was möchte ich mit meiner beruflichen Tätigkeit bewirken? Wie kann ich das angehen? Viele berichteten von gemeinsamen Projekten mit Freund:innen oder ihrer ganz spezifischen Community.

Ich denke, dass eine Besonderheit an Berlin ist, dass man aufgrund der Größe für fast alles Gleichgesinnte findet. Dies ist oft natürlich eine wichtige Basis, um neue Dinge anzugehen und vielleicht sogar gemeinschaftlich etwas zu erschaffen. Mein Eindruck ist, dass Berlin sehr vielfältig ist und auf diese Weise viel Potenzial für Karrieregestaltung bietet.  

Vielen Dank für das Interview, Frau Dr. Mühlhaus.