„Diversity & Inclusion“ haben nicht nur einen festen Platz in unserer weltoffenen Stadt Berlin, sondern sind momentan zweifellos auch die Topthemen im Bereich der Unternehmenskultur. Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitenden sind in Deutschland gesetzlich verpflichtet, mindestens fünf Prozent Personen mit Schwerbehinderungen einzustellen. Klingt nach einer tollen Chance für Inklusion, oder? Aber weit gefehlt. Denn das Gesetz ermöglicht den Freikauf dieser Pflicht durch eine sogenannte Ausgleichszahlung. Sprich, anstatt einen Menschen mit Schwerbehinderung einzustellen, können Arbeitgebende einen jährlichen Betrag an das Inklusionsamt leisten. „Ein wahrer Fehler im System!“, sagt Nils Dreyer (44), Geschäftsführer der Hilfswerft gGmbH.
Die Hilfswerft bringt seit acht Jahren Social Entrepreneure in Deutschland voran und hat im Jahr 2020 das Projekt Inklupreneur ins Leben gerufen. Inklupreneur unterstützt Gründer:innen und Start-ups dabei, neben einem Geschäftsmodell, mit dem Geld verdient wird, auch ein Wirkmodell (Impact) aufzubauen. Dieses verfolgt die nachhaltigen Ziele der UN und verbindet Jobsuchende mit Schwerbehinderung mit konkreten Arbeitgebenden.
Auf diesem Weg sind Nils und sein Team vor große Aufgaben gestellt, denn noch immer gibt es in der Gruppe der Menschen mit Behinderung eine doppelt so hohe Arbeitslosigkeit gegenüber Menschen ohne Behinderung. Und dies, obwohl statistisch bewiesen ist, dass arbeitslose Personen mit Behinderung höhere Bildungsabschlüsse und mehr Berufserfahrung haben. Das bedeutet auch, dass wir als Gesellschaft Menschen mit Behinderung durch Sozialsysteme subventionieren. „Ein Fakt, der nicht sein muss.“, sagt Nils.
Deshalb hat er mit Inklupreneur ein Modell entwickelt, das Personen mit Schwerbehinderung die Chance gibt, sich selbst zu verwirklichen. Über das Projekt finden die Menschen einen passenden Job und somit werden hoch qualifizierte Arbeitskräfte an Unternehmen vermittelt. „Wir alle wollen uns verwirklichen und Selbstwirksamkeit spüren. Das Recht auf Selbstverwirklichung sollte jedem Menschen unabhängig von Geschlecht, Religion oder Behinderung offen stehen.“, so Nils. Welchen Herausforderungen er in seiner täglichen Arbeit begegnet, was Berliner Unternehmen im Bereich Inklusion aktuell tun und wie Sie ganz persönlich Inklusion voranbringen können, verrät er in folgendem Interview.
Was bedeutet Inklusion für Sie?
Aus meiner Sicht als Social Entrepreneur bedeutet Inklusion vor allem eine Chance, Menschen, die ansonsten nicht die Möglichkeit hätten, aktiv am Arbeitsleben teilnehmen zu lassen. Inklusion stiftet Wirkung (Impact) und sollte ein Standard in unserer Gesellschaft sowie in allen Unternehmenskulturen sein. Ich glaube daran, dass eine größere Vielfalt in Teams zu mehr Erfolg führt und dies ist ja auch mittlerweile wissenschaftlich bewiesen.
Wie sind Sie das erste Mal mit dem Thema Inklusion in Berührung gekommen?
Ich habe vor 15 Jahren mit einem Freund zusammen ein Online-Start-up gegründet und wir haben damals eine:n Developer:in für unser Unternehmen gesucht. Einer der Bewerber:innen war ein Mensch mit einer körperlichen Schwerbehinderung. Sein Name ist Gerd. Gerd war der Bewerber mit den formal höchsten Qualifikationen. Wir haben ihn eingeladen und kennengelernt. Das war meine erste aktive Berührung mit einem Menschen mit Schwerbehinderung in meiner Rolle als Arbeitgeber.
Letztendlich haben wir ihn eingestellt und von Anfang an sein Potenzial und seine Fähigkeiten geglaubt. Die Zusammenarbeit hat wunderbar funktioniert. Es war spannend zu sehen, was passiert. Sicherlich hatte Gerd anfangs andere Bedürfnisse als andere Mitarbeitende – so brauchte er beispielsweise einen höhenverstellbaren Schreibtisch, diverse Lupen und andere Home Office-Regelungen, aber das war für uns nie ein Problem.
Alle Kolleg:innen, die nach Gerd eingestellt wurden, hatten einen ganz selbstverständlichen Umgang mit ihm. Das bedeutet, dass wir eine inklusive Unternehmenskultur aufgebaut haben, weil von Anfang an ein Mensch mit Schwerbehinderung Teil unseres Team war. Und das Beste: Während ich vor sechs Jahren meine Unternehmensanteile verkauft habe, leitet Gerd noch heute die IT-Abteilung.
Stellen Sie uns Ihr Projekt Inklupreneur vor!
Inklupreneur ist ein Projekt der Hilfswerft. Wir sind aktuell ein Team von elf Mitarbeitenden – davon sind sechs Leute im Inklupreneur-Team. Das Team setzt sich aus Projektleiter und Umsetzungsberatenden zusammen, die Start-ups und Grown-ups in Berlin und Bremen dabei unterstützen, Talents mit Schwerbehinderung einzustellen.
Zudem haben wir einen Talentpool, in dem sich Jobsuchende mit Behinderung ein eigenes Persönlichkeits- und Werteprofil anlegen können. Mit diesem Profil werden die Talents in einer Datenbank erfasst und unser System findet Matches zwischen den Jobsuchenden und Arbeitgebenden, die bei uns Jobs inserieren. Gefällt einem Talent ein vorgeschlagenes Match gut, kann die Person einen Bewerbungsprozess initiieren.
Inklupreneur vergibt ein Pledge an Unternehmen. Was bedeutet dieses und wer genau kann es erhalten?
Unser Pledge ist zunächst erst mal ein Statement für Unternehmen und Organisationen. Das Ziel ist es, eine inklusive Unternehmenskultur aufzubauen. Das Statement wird im zweiten Schritt mit Zielwerten in Form von Beschäftigungsverhältnissen mit Personen mit Behinderung untermauert. Um diese Zielwerte zu erreichen, starten wir mit den Unternehmen ein Programm.
Das Programm kostet kein Geld, aber Zeit und Arbeitsaufwand. Die teilnehmenden Unternehmen werden in Gruppen zusammengefasst und durchlaufen gemeinsam einen Prozess hin zum inklusiven Unternehmen.
Das Pledge kann zunächst jedes Unternehmen unterzeichnen. Im zweiten Schritt setzen wir uns jedoch mit den Unterzeichnenden auseinander und prüfen die Absichten sowie Werte. Wenn alles passt, nehmen wir das Unternehmen in unser Programm auf und erreichen gemeinsam die oben genannten Ziele.
Wie ist der aktuelle Stand zum Thema Inklusion in der Berliner Unternehmenslandschaft?
Ich sehe grundsätzlich eine große Bereitschaft bei Start-ups (etwa 75 Prozent) in Berlin, sich mit dem Thema „Diversity und Inclusion“ auseinandersetzen zu wollen. Jedoch sind es lediglich 33 Prozent, die aktiv Menschen mit Schwerbehinderungen einstellen. Hier gibt es also eine Diskrepanz zwischen Wollen und Tun.
Viele Unternehmen klagen, dass sie keine Bewerber:innen mit Behinderungen haben. Jedoch liegt es bei den Unternehmen, an der Darstellung nach Außen zu arbeiten. Es ist die Aufgabe der Unternehmen, dass Menschen mit Behinderungen sie wahrnehmen. Hier gibt es noch eine Menge zu tun. Wir unterstützen mit Inklupreneur in diesem Prozess.
Warum lohnt es sich, in einem Unternehmen mit Inklusion zu arbeiten?
Statistisch ist es bewiesen, dass inklusive Unternehmenskulturen erfolgreicher sind. Aber grundsätzlich muss jede Person für sich selbst entscheiden, ob sie oder er eine monotone Unternehmenskultur vorzieht, in der alle gleich alt sind, das Gleiche essen, die gleiche Musik hören, die gleichen Interessen haben oder ob sie oder er Vielfalt in einem Team mit unterschiedlichen Perspektiven haben möchte. Ich finde es wichtig, dass wir allen die Wahl lassen.
Wissen Sie, die wenigsten Menschen sind mit einer Schwerbehinderung geboren. Die meisten Menschen bekommen diese durch eine Krankheit oder einen Unfall. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass auch wir und unsere Freund:innen oder Familie davon potenziell betroffen werden könnten. Ich finde es wichtig, dass wir achtsam gegenüber dem Thema sind und gemeinsam eine inklusive Unternehmenskultur fördern. In einem Unternehmen geht es nicht nur um Leistung, sondern auch um ein soziales Miteinander.
Wer sind die führenden Berliner Start-ups bei Inklupreneur?
Das Unternehmen Karma Kollektiv hat sich beispielsweise Inklusion in seine Unternehmenssatzung geschrieben – ein großer Schritt.
Zudem kann ich das Team von kfzteile24 in diesem Zusammenhang nennen. Das Unternehmen hat bis zu 800 Mitarbeitende. Wir beleuchten gerade gemeinsam jede einzelne Abteilung und schaffen Möglichkeiten, für Menschen mit Behinderung dort zu arbeiten. Im Besonderen rekrutieren wir in Kooperation mit den Berufsbildungswerken Möglichkeiten für Jobeinsteiger:innen.
Aber auch Firmen wie beispielsweise Einhorn schaffen neue Stellen, indem sie Aufgaben von anderen Positionen rausnehmen und diese zu einem neuen Profil formen, welches es Menschen mit Behinderung möglich macht, diesen Job zu starten.
Gibt es einen Unterschied zwischen dem öffentlichen Sektor und der Privatwirtschaft zum Thema Inklusion?
Ja, die 5-Prozent-Grenze zur Einstellung von Menschen mit Schwerbehinderung bei einem Team ab 20 Mitarbeitenden sind im öffentlichen Sektor definitiv schneller erreicht. Das liegt zum einen an Inklusionsvereinbarungen, die getätigt wurden, aber auch an Zweifeln der Bewerbenden, die es gegenüber der Privatwirtschaft noch gibt. Dies hat, wie oben erwähnt, mit der Außen-Darstellung zu tun.
Öffentliche Unternehmen sind mehr oder weniger dazu verpflichtet, Inklusion zu leben, während private Unternehmen die Wahl haben. Überzeugende Konzepte zum Thema Inklusion sind privatwirtschaftlich noch selten.
Was raten Sie Unternehmen, im Bereich Inklusion zu tun?
Haben Sie den Mut, das Thema Inklusion anzugehen! Haben Sie keine Angst vor Komplexität! Beschäftigen Sie sich mit der Thematik, sammeln Sie Erfahrungen und treffen Sie aufgrund dieser immer wieder neue Entscheidungen.
Wie finden Fachkräfte Unternehmen, die Inklusion als Teil ihrer Unternehmenskultur aktiv voranbringen?
Über Inklupreneur zum Beispiel. Wir haben auf unserer Website Unternehmen mit einer inklusiven Kultur gelistet. All diese Unternehmen sind von uns geprüft und bereits im Prozess der Veränderung hin zu einem inklusiven Unternehmen.
Was können Fachkräfte tun, um Inklusion in ihrem Unternehmen zu fördern?
Wenn Sie in einem Berliner Unternehmen tätig sind, können sich jederzeit an Inklupreneur wenden. Wir bringen das Thema gemeinsam mit Ihnen auf den Weg. Um generell das Thema „Diversity & Inclusion“ voranzubringen, schließen Sie sich einer themengebundenen betriebsinternen Community an. Es gibt noch keine Community? Dann gründen Sie eine! Geben Sie dem Thema eine Stimme, tauschen Sie sich aus und stoßen Sie gemeinsam einen Prozess zwischen Personalabteilung und Geschäftsführung an.